Dominikanische Stimmen aus der Ukraine – Woche 10

Wir verstärken hier die Stimmen unserer Mitbrüder aus dem ukrainischen Kriegsgebiet auf Deutsch. Sie engagieren sich mit allen Kräften vor Ort für Menschen, die Hilfe brauchen. Wenn Sie unsere dominikanische Familie in der Ukraine unterstützen wollen, ist dies z.B. direkt über ihre Aktionswebseite hilfeukraine.dominikanie.pl möglich. Dort haben die ukrainischen Dominikaner mit ihren polnischen Mitbrüdern Infos und direkte Wege aufgeführt: Was wird dringend gebraucht? Wo helfen die Dominikaner im Kriegsgebiet? Wie kommen die Sachen zu den Menschen? Will ich Geld spenden oder direkt konkrete Lebensmitteleinheiten? Herzlichen Dank an alle Unterstützenden!


Kiew, Mittwoch, 11. Mai, 12:15 Uhr

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

Wenn ich durch das frühlingshafte Kiew gehe, fühlt es sich an, als wäre der Krieg gerade zu Ende gegangen. Jeden Tag füllen sich die Straßen mit einer wachsenden Zahl von Menschen, neue Geschäfte werden eröffnet, neue Cafés, Restaurants und Dienstleistungen öffnen ihre Türen. Sogar auf den Basar, nicht weit von unserem Priorat entfernt, kehren die Händler zurück, obwohl er bis vor kurzem ein einziges Durcheinander war, da das angrenzende Gebäude vor zwei Monaten von russischen Raketen zerstört worden war. Das ist nicht ungewöhnlich. Seit Kriegsbeginn wurden in der Hauptstadt 390 Gebäude, darunter 222 Wohnhäuser, beschädigt oder zerstört; 75 Schulen, Vorschulen und Kindergärten wurden beschädigt, ebenso 17 Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen. Vergleicht man diese Zahlen mit denen von Charkiw, der großen Metropole in der Ostukraine, erscheinen sie natürlich nicht so hoch, aber jeder dieser Orte bedeutet: reelle menschliche Tragödien, Tod und Verstümmelung unschuldiger Menschen und viele Ressourcen, die für den Wiederaufbau erforderlich sein werden.

In Kiew gibt es weiterhin weniger Autos als vor dem Krieg. Das verwundert nicht, denn viele Bürger der Hauptstadt sind noch nicht in ihre Häuser zurückgekehrt. Auch bei der Beschaffung von Treibstoff gibt es große Probleme. Kürzlich hielt ich mit ein paar Brüdern an einer Tankstelle an. Wir hatten den Hinweis auf der elektronischen Preistafel missverstanden, und als wir uns dem Kassierer näherten, hörte ich: „Das Benzin ist nur für diejenigen, die spezielle Coupons haben.“ Ich wollte gerade enttäuscht weggehen, als ein nettes junges Mädchen, das an der Kasse arbeitete, lächelnd zu mir sagte: „Wenn Sie bei uns eine Pizza kaufen, verkaufe ich Ihnen 10 Liter Diesel.“ So ein Angebot kann man nicht ablehnen, zumal wir nach dem ganzen Tag in der Stadt wirklich Hunger hatten. In Anbetracht all dessen muss ich sagen, dass die Käsepizza mit Birne außergewöhnlich lecker war. Ich sprach die Dame erneut an und fragte sie, ob sie uns 40 Liter Diesel verkaufen würde, wenn wir in einer Stunde mit Benzinkanistern zurückkämen und vier Pizzen kauften. „Na klar, kommen Sie vorbei!“ Also ging Pater Thomas noch einmal zur Tankstelle, und abgesehen von einem Vorrat an Kraftstoff hatten wir auch ein wunderbares Abendessen im Priorat.

Apropos Essen… Pater Misha erzählte uns, dass die russische Armee in Andrijewka, einem der am meisten zerstörten Dörfer in der Umgebung von Kiew, nicht nur zerstörte Gebäude und Landminen auf den Feldern zurückgelassen hat, sondern auch Einmachgläser mit der original russischen rassolnik, oder wie wir sie nennen, Dillgurkensuppe. Diese Ein-Gallonen-Gläser (Anm. d. Red.: ca 3,8 Liter) waren mit der russischen Armee aus einem weit entfernten Land angereist. Auf dem Etikett konnte man lesen, dass sie im Oktober 2021 in der Stadt Totskoe in der Republik Kalmückien hergestellt worden waren. Offensichtlich konnte die sich zurückziehende Armee diese kalmückische Suppe nicht vertragen. Vielleicht haben sie beschlossen, dass sie ukrainischen Borschtsch bevorzugen? Ich habe Mischa scherzhaft gebeten, einen dieser Krüge mitzubringen, wenn er nach Andrijewka kommt.

Die Menschen in den zerstörten Dörfern um Makariv brauchen Hilfe. Die Freiwilligen vom Haus St. Martin in Fastiv haben zusammen mit einer Gruppe protestantischer Freiwilliger aus Rivne über 40 Wohnhäuser wiederaufgebaut. Das konnten sie nur dank der Hilfe, die uns aus der ganzen Welt zukommt. Pfarrer Misha brachte es auf den Punkt: „Ohne euch gibt es uns nicht“. Vielen Dank für Ihre Solidarität mit der Ukraine!

Eine alte Dame aus Adrijewka zeigte mir Türen und Fenster mit Einschusslöchern in ihrem Haus. „Ich habe die Löcher so gut wie möglich gestopft, um den Luftzug zu stoppen.“ Ich versuchte zu verstehen, warum Russen auf die Häuser alter, kranker Menschen schießen. „Abends, wenn sie betrunken waren, schossen sie, ohne zu zielen“, sagte sie und fuhr fort: „Die meisten von ihnen waren junge Burschen, vielleicht 20 Jahre alt. Manche waren in den Vierzigern.“ Als wir ins Auto stiegen, folgte sie uns. „Bitte beten Sie für meinen Enkelsohn. Er ist im Asow-Regiment und kämpft in Mariupol. Ich bitte alle, für ihn zu beten.“ Wir unterhielten uns eine kurze Weile. Ich versicherte ihr, dass wir für ihn beten, und sagte ihr, dass ihr Enkel ein echter Held ist und dass künftige Generationen von Ukrainern in der Schule über Menschen wie ihn lesen werden. Aber ist das wirklich ein Trost für das gebrochene Herz einer alten Dame?

Eine andere alte Dame erzählte mir, dass die Russen zwei ukrainische Soldaten vor ihrem Haus erschossen hatten und dann begannen, die Leichen zu verbrennen. „Ich fragte sie: ‚Was macht ihr da?‘ Sie löschten das Feuer, aber sie ließen nicht zu, dass ich sie beerdige. Andere von uns wurden gegenüber ihrem Haus ermordet.“ Wenn sie darüber spricht, zittert ihre Stimme und Tränen treten ihr in die Augen. „Ich konnte nichts tun. Ein paar Tage lang habe ich die Leichen vor den Hunden geschützt, als sie auf der Straße lagen.“ Nach einem Moment fügt sie hinzu, dass eines Tages ein russischer Soldat zu ihrem Haus kam: „Oma, ich habe beschlossen, mich in deinem Haus zu verstecken. Sie zwangen mich zu schießen, und ich will diesen Krieg nicht. Ich bin Ukrainer. Mein Vater ist Ukrainer, und meine Mutter ist Burjatin. Ich hatte einen Arbeitsvertrag mit der russischen Armee unterschrieben. Dann sind wir 30 Tage lang zu dir gereist. Wir hatten Feldübungen in Weißrussland. Oma, wie kann ich auf Ukrainer schießen? Vielleicht ist mein Onkel oder mein Bruder auf der anderen Seite.“ Die alte Dame erzählte diese Geschichte in aller Ruhe und mit deutlichem Respekt vor diesem Mann.

Am Sonntag feierte Pater Igor seine erste Messe in Fastiv. Am Tag zuvor wurde er von Bischof Nikolaus Luczok, dem apostolischen Administrator der Diözese Mukachevo und unserem Bruder in St. Dominikus, zum Priester geweiht. Igor stammt aus dem Donbas. Er wurde 2010 getauft, als er 24 Jahre alt war. Bevor er in den Orden eintrat, machte er seinen Abschluss in Linguistik an der Universität in Donezk und arbeitete ein Jahr lang als Gymnasiallehrer. Seine Ordensausbildung absolvierte er in Polen, in Warschau und Krakau. Unmittelbar nach Kriegsbeginn bat er darum, in die Ukraine zurückgeschickt zu werden. Er kam Anfang März in Fastiv an, als in der Stadt schwere Kämpfe stattfanden. Er bestand seine letzten Prüfungen und verteidigte seine Masterarbeit online. Pater Igor reist nun nach Chmelnyzkyi, wo er in unserer dominikanischen Gemeinschaft dienen wird.

Bei seiner Ordinationsmesse wurde er von der dominikanischen Familie aus der Ukraine, von Pater Lukasz, dem Provinzial von Polen, und von Pater Pavel, seinem Vorgänger, begleitet. Leider konnten die Eltern von Igor wegen des Krieges nicht an dieser Feier teilnehmen. Seine Familie wurde durch seine Cousine und ihren Mann vertreten. Die beiden hatten in unserem Dominikanerpriorat in Chmelnyzkyj Unterschlupf gefunden. Viele Brüder betonten, dass Igors Weihe, die am 73. Tag des Krieges zwischen Russland und der Ukraine stattfand, ein Zeichen der Hoffnung sei. Während er für das Geschenk des Priestertums dankte, sagte Igor: „Ein Journalist fragte mich kürzlich, was es bedeutet, in Zeiten des Krieges Priester zu werden. Ich antwortete, dass ich es nicht weiß. Es ist ein Geheimnis für mich, von dem ich hoffe, dass Christus selbst mir helfen wird, es zu verstehen.“

Ich schlug den Brüdern Lukasz und Pavel aus Polen und Wojciech aus Lemberg vor, dass wir auf der längeren Wegstrecke zur Priesterweihe fahren sollten. Ich wollte, dass sie, da sie bereits in Kiew waren, mit eigenen Augen die schmerzhaften Wunden unserer vom Krieg zerstörten Ukraine sehen und sie symbolisch berühren. So reisten wir von Kiew über Bucha, Hostomel, Borodyanka und Makariw nach Fastiw. Wir beteten unser Morgengebet im Auto. Wir hielten an der Tankstelle in Horenka, die deutliche Spuren von Kugeln, Bomben und Feuer aufwies, um die Lesehore zu beenden. Die Tankstelle befindet sich am Rande der Hauptstadt. Um uns herum hatten wir einen Panoramablick auf das Tal, den Fluss Irpin und die zerstörte Brücke – ein symbolischer Ort für die kürzliche Flucht der Menschen aus den besetzten Städten. Wir hatten gerade den Kommentar des hl. Kyrill von Alexandrien zum Johannesevangelium gelesen: „Um ihretwillen weihe ich mich selbst. Wenn er sagt, dass er sich selbst weiht, bedeutet das, dass er sich Gott als makelloses und wohlriechendes Opfer darbringt. Nach dem Gesetz war alles, was auf dem Altar dargebracht wurde, geweiht und galt als heilig. So gab Christus seinen eigenen Leib für das Leben aller und macht ihn zum Kanal, durch den das Leben wieder in uns einfließt.“ Auf diese Weise ist das Priestertum in besonderer Weise mit ihm, dem Erzpriester des Neuen Bundes, verbunden. Deo gratias für das Geschenk des Priestertums von Pater Igor!

In Chortkiv feierten die Brüder gerade, wie jedes Jahr, das Hochfest des heiligen Bischofs und Märtyrers Stanislaus, des Schutzpatrons der örtlichen Kirche. Wegen des Krieges fielen die Feierlichkeiten viel bescheidener aus als früher, aber der Pfarrer, Pater Svorad, betonte, dass jetzt mehr Menschen zur Sonntagsmesse kommen, weil die Stadt einige tausend Flüchtlinge aufgenommen hat. Pater Svorad, der aus der slowakischen Dominikanerprovinz stammt, dient in der Ukraine mit großem Herzen. Er ist ein gefragter Beichtvater und geistlicher Vater.

Mit herzlichen Grüßen und der Bitte um Ihr Gebet,

Jarosław Krawiec OP


Kiew, 5. Mai, 12:30 Uhr

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

„Pater, der Fliegeralarm läuft schon seit über zwei Stunden. Bist du im Schutzraum?“ Gerade als ich zu schreiben begann, erhielt ich diese Nachricht von Vera aus dem Haus des Hl. Martin in Fastiv. Wie gestern wurde auch für heute Abend ein Luftangriff auf fast das gesamte Land angekündigt; die Nachrichten haben von mehreren Raketenangriffen in verschiedenen Städten der Ukraine berichtet. Obwohl die Angriffe meist auf Eisenbahnen und strategische Orte zielen, wissen wir alle, dass diese Raketen nicht immer ihr Ziel treffen. Am Tag vor meiner Rückkehr nach Kiew zerstörte eine der Raketen ein gerade fertig gestelltes Wohnhaus in der Nähe unseres Priorats. Pater Peter, der zu diesem Zeitpunkt im Garten arbeitete, konnte deutlich das Geräusch der Raketen und dann starke Explosionen hören. Zur gleichen Zeit fand ein Angriff auf Fastiv statt. Glücklicherweise schlugen die Raketen etwas weiter entfernt vom dortigen Priorat ein. „Wäre die Explosion etwas größer gewesen“, sagte Pater Mischa, „wären sicher alle Glasmalereien der Kirchenfenster zerstört worden.“

Siebzig Tage des Krieges sind vergangen. Dieser Krieg hat viele ukrainische Städte in Ruinen verwandelt, Millionen Menschen obdachlos gemacht und Tausenden Leben und Gesundheit geraubt. Bis vor kurzem hätte ich nicht gedacht, dass ich einmal in die Fußstapfen der Generation meiner Großeltern treten würde, die ihre Zeit in „vor dem Krieg“ und „während des Krieges“ einteilte. Man möchte ja auch „nach dem Krieg“ schreiben.

Nach einer langen Pause schreibe ich nun wieder Briefe aus der Ukraine. Ich habe gezögert, weil ich mir nicht sicher war, ob das notwendig ist oder ob wir alle schon zu müde sind von dem, was hier passiert. Aber zahlreiche Menschen haben mich ermutigt, das Schreiben nicht aufzugeben. Auch wenn sich die Situation schon sehr verändert hat, ist der Krieg weiterhin im Gange und überrascht uns immer noch, regt zum Nachdenken an, zum Gebet, zur Hilfe oder auch dazu, füreinander da zu sein.

Ich bin am Freitag in die Ukraine zurückgekehrt. Der Grenzübertritt aus Polen hat nicht viel Zeit gekostet. Der Verkehr in beide Richtungen ist viel schwächer als vor dem Krieg, außer offensichtlich für diejenigen, welche die Gelegenheit nutzen, die sich durch die laxeren ukrainischen Einfuhrbestimmungen bietet, um Autos aus Westeuropa einzuführen. Offenbar warten sie auf der polnischen Seite ein paar Tage lang. Die Zelte, in denen Freiwillige noch vor kurzem Lebensmittel an Geflüchtete verteilt hatten, waren leer.

Die Fahrt von der polnischen Grenze nach Fastiv dauert den ganzen Tag, weil man fast 600 km fahren muss. Der Verkehr ist nicht mehr so stark wie vor dem Krieg. Die Kontrollpunkte, die bis vor kurzem den Verkehr in der Westukraine stark verlangsamten, sind verschwunden. Wären da nicht die Militärfahrzeuge, an denen ich von Zeit zu Zeit vorbeikomme, könnte man vergessen, dass Krieg herrscht. Das größte Problem bei der Fortbewegung ist der Mangel an Treibstoff. Als Folge der Kriegsschäden und der Unterbrechung der Lieferungen aus Russland und Weißrussland ist das Tanken aktuell ein großer Kraftakt. Die meisten Tankstellen sind geschlossen. Einige bieten nur eine einzige Kraftstoffsorte an. Und wenn man es irgendwie schafft, eine Tankstelle zu finden, die das hat, was man braucht, muss man in einer langen Schlange warten, bis man 20 oder manchmal nur 10 Liter Benzin kaufen kann.

Das letzte Stück des Weges fuhr ich durch Gebiete, die vor kurzem von der russischen Armee besetzt oder ins Visier genommen worden waren. Es war dunkel, und alles schien leer zu sein. Teilweise hatte ich ein seltsames, unheimliches Gefühl, vor allem, wenn ich durch die Wälder fuhr. Es heißt, dass sich dort immer noch verdächtige Gestalten herumtreiben. Ich hatte Glück, dass ich nicht anhalten und aussteigen musste, denn als ich gestern dieselbe Strecke fuhr, kam ich an einer Gruppe von Militäringenieuren vorbei, die den Straßenrand kontrollierten. Landminen sind inzwischen ein echter Fluch für die Bewohner der Dörfer und Städte rund um Kiew. Diese von den Russen hinterlassenen „Souvenirs“ haben bereits Dutzende von Menschen das Leben gekostet.

Ich erreichte Fastiv nach Beginn der Ausgangssperre. Glücklicherweise zeigten die Männer, die den Eingang zur Stadt bewachten, volles Verständnis, und nach einer angemessenen Ermahnung, dass ich um diese Zeit nicht hier sein sollte, sagten sie mir: „Gehen Sie weiter, Pater; es ist nicht so, dass Sie hier bis zum Morgen warten sollten.“

Am Samstag, nach dem Gebet, dem Frühstück und der Morgenbesprechung, bei der Pater Mischa den Freiwilligen ihre Aufgaben zuwies, brachten wir die Hilfsgüter in die Dörfer nördlich von Fastiv. Einige von ihnen waren von der russischen Armee beschossen, andere besetzt worden. Obwohl es bereits einen Monat her ist, dass die Angreifer abgezogen sind, sehen diese Orte immer noch grauenhaft aus. Wir besuchten Dörfer, in denen mehr als 70 bis 80 Prozent der Gebäude zerstört sind.

Einige Einwohner, denen die Flucht gelungen war, kehren jetzt in ihre Häuser zurück, sofern etwas übriggeblieben ist. Andere sind nie weggegangen. Wir hielten in Andriivka, einem Dorf an der Straße von Makariv nach Borodyanka. Pater Misha und seine Freiwilligen von St. Martin waren schon mehrmals dort. Wir sprachen mit Vitaly, der einen Kiosk betreibt, in dem humanitäre Hilfsgüter verteilt werden. Er erzählte uns, was dort vor ein paar Wochen passiert ist. Er zeigte auf das Schulgebäude: „Etwa ein Dutzend Frauen mit Kindern waren dort. Die Russen haben sie irgendwohin gebracht. Wir wissen nicht, was mit ihnen passiert ist und wo sie jetzt sind.“ Er erzählte uns, dass die Soldaten, als sie ins Dorf kamen, die Häuser von Tür zu Tür durchsuchten und nach „Nazis“ und „Banderisten“ [Mitglieder einer rechtsgerichteten Organisation aus den 1940er Jahren] suchten. Auch andere Menschen, die die Besatzung überlebt haben, erzählen davon. Zu ihnen gehört Natalia, die jetzt mit ihren alten, kranken Eltern in unserem Priorat in Kiew lebt. Bevor sie zu uns zog, verbrachte sie zwei Wochen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bucha, das unter russischer Kontrolle stand. „Zuerst suchten sie nach den Nazis, und dann kamen die nächsten und stahlen unsere Sachen. Sie nahmen Lebensmittel und alles, was sie wollten. Sie haben mein Auto gestohlen, das vor dem Haus geparkt war. Sie sind einfach weggefahren.“ Die ganze Zeit über versuche ich zu verstehen, wie diese russischen Soldaten tatsächlich glauben können, dass sie die Ukraine vom Nazismus befreien. Oder rechtfertigen sie vielleicht nur ihr eigenes Handeln? Ich weiß es nicht.

Wir sind in ein anderes Dorf gefahren. Novyi Korohod sieht nicht so aus, als sei es ernsthaft beschädigt worden. Aber es wurde von den Russen besetzt. Vater Mischa verteilte weitere humanitäre Hilfsgüter. Dieses Dorf wurde 1986 für Menschen gegründet, die aus Tschernobyl umgesiedelt werden mussten. Die Bürgermeisterin der Stadt begrüßte uns sehr herzlich. Sie erzählte uns von ihrem Sohn, der in den Krieg ziehen will. „Aber ich brauche ihn hier“, sagt sie. „Als die Russen hier waren, hat er so vielen unserer Leute geholfen; er ist so oft von Haus zu Haus gegangen, wenn etwas zu tun war oder wenn jemand etwas brauchte.“ Sie hat Recht: Mit einer Waffe zu kämpfen, ist nicht die einzige Möglichkeit, im Krieg zu kämpfen. Als wir sie fragten, was sie brauchen, antwortete sie schlicht: „Frieden und Leben“.

Auf dem Weg nach Borodjanka sahen wir in einem Nachbardorf noch mehr Zerstörung, dort hatten bis vor kurzem russische Panzer zwischen den Häusern gestanden. Wir gingen ans Haus eines älteren Ehepaares, um ihnen etwas Essen zu bringen. Die alte Dame war verreist. Ihr Mann ist blind und hat beide Beine amputiert. Er erkannte Vater Mischa und die Freiwilligen an ihren Stimmen. Im Wohnzimmer hält er winzige Hühner in einem kleinen Korb. Es ist eine neue Generation Geflügel, denn die Russen haben die Hühner, die das Ehepaar zuvor hatte, gestohlen und aufgegessen. Der alte Mann freute sich sehr über das Radio, das die Freiwilligen ihm bei seinem letzten Besuch geschenkt hatten. Es spielt den ganzen Tag über. Als wir gingen, stellten wir ihm die übliche Frage, ob er etwas brauche. Der alte, kranke Mann antwortete mit ernstem Gesicht: „Ich bitte nicht um viel; bitte bringen Sie mir ein paar Zigaretten.“ Es war sehr bewegend; er bekam die Zigaretten sofort ausgehändigt.

Wir kamen in Borodyanka an. Diese Stadt, die an Hostomel, Bucha und Irpin grenzt, ist fast vollständig zerstört. Die ganze Welt konnte Bilder von zerbombten Wohnhäusern sehen. Vor einem von ihnen steht ein Denkmal von Taras Schewtschenko, einem der bedeutendsten ukrainischen Dichter. Die Angreifer konnten das Denkmal nicht zerstören, obwohl man die Einschusslöcher darin sehen kann. Ein Schild mit ein paar Zeilen aus dem im Gefängnis geschriebenen Gedicht ist übriggeblieben:

Liebe deine Ukraine.

Liebe sie…

In grausamen Zeiten,

in der letzten schwierigen Minute,

bete zum Herrn

für sie!

(Übersetzung von Yuri Zoria)

Am kommenden Samstag wird Bruder Igor Selischtschew in Fastiv zum Priester geweiht. Igor kommt aus Donezk. Er hatte gerade sein Studium und seine Ausbildung in Krakau beendet und kam nach Fastiv, als der Krieg begann. Bitte beten Sie für ihn. Das Geschenk des Priestertums, das er in einer für die Ukraine und für uns alle sehr schwierigen Zeit empfangen wird, ist ein echtes Zeichen der Hoffnung.

Ich grüße Sie sehr herzlich und bitte Sie um Ihr Gebet.

Jarosław Krawiec OP


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