Wir verstärken hier die Stimmen unserer Mitbrüder aus dem ukrainischen Kriegsgebiet. Sie engagieren sich mit allen Kräften vor Ort für Menschen, die Hilfe brauchen. Pater Jarosław Krawiec OP wurde für seine „Briefe aus der Ukraine“, die wir hier von uns auf Deutsch übersetzt dokumentieren, mit dem Good News-Medienpreis der Schweizer Bischofskonferenz ausgezeichnet.
Wenn Sie unsere dominikanische Familie in der Ukraine unterstützen wollen, ist dies z.B. direkt über ihre Aktionswebseite hilfeukraine.dominikanie.pl möglich. Dort haben die ukrainischen Dominikaner mit ihren polnischen Mitbrüdern Infos und direkte Wege aufgeführt: Was wird dringend gebraucht? Wo helfen die Dominikaner im Kriegsgebiet? Wie kommen die Sachen zu den Menschen? Will ich Geld spenden oder direkt konkrete Lebensmitteleinheiten? Herzlichen Dank an alle Unterstützenden!
Kiew, Montag, 7. August 2023
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
Die Telefone reagieren als erste. Fast jeder Ukrainer hat auf seinem Smartphone eine App installiert, die uns über aktuelle Alarme informiert. Ein paar Sekunden später heulen die Sirenen auf. Am Samstag geschah dies drei Mal, das letzte Mal während der Abendmesse, die ich in der Kapelle des Kiewer Provinzialats feierte. Wir haben uns daran gewöhnt, es gibt keine Panik, keine Nervosität wie zu Beginn des Krieges. Ich bezweifle jedoch, dass irgendjemand fähig ist, die wiederkehrenden Alarme mit völliger Ruhe hinzunehmen. Vor allem nachts, wenn die russischen Drohnen und Raketen am häufigsten vorbeifliegen. Ich muss zugeben, dass ich seit über anderthalb Jahren fast jeden Morgen damit beginne, die Nachrichten zu checken, auch wenn ich nicht in der Ukraine bin und nicht von Sirenen mitten in der Nacht geweckt werde.
Die ukrainische Luftwaffe informiert sofort über die sich nähernden Bedrohungen. So auch am Samstag, als etwa ein Dutzend schwer abzuschießende Hyperschallraketen aus Russland und Weißrussland unterwegs waren. Es ist ein seltsames Gefühl, im Voraus zu wissen, dass in einem Moment irgendwo Menschen sterben und Häuser zerstört werden können. So wie am 6. Juli, als im Zentrum von Lemberg zehn Menschen ihr Leben verloren und über 40 verwundet wurden. Und vor einer Woche schlugen die russischen Raketen in Kryvyi Rih in ein neunstöckiges Wohnhaus ein und verletzten über 80 Menschen. Unter den Toten waren die zehnjährige Daria und ihre Mutter Natalya. Neben dem zerstörten Gebäude haben die Menschen einen Haufen Blumen und Spielzeug abgelegt. Auf dem Bild sind zwei Kisten mit Barbie-Puppen zu sehen. Dieselben Puppen, von denen Millionen von Kinobesuchern auf der ganzen Welt und Daria geträumt haben…
Die Gedanken über die Ukraine sollten sich jedoch nicht nur auf den Terror der russischen Raketen konzentrieren. Trotz alledem geht das Leben weiter. Manchmal könnte man den Eindruck gewinnen, dass der Krieg zu einem vagen Hintergrund hinter dem normalen Leben geworden ist. Die mit Verkehr verstopften Straßen der Hauptstadt, die Touristenmassen auf den beliebten Bergpfaden der Karpaten oder die überfüllten Züge nach Polen, für die es in den Sommermonaten an ein Wunder grenzt, ein Ticket zu bekommen. Für jemanden, der die Ukraine aus der Ferne betrachtet, mag das überraschend oder vielleicht sogar irritierend wirken. Es könnte sogar die Frage provozieren: Ist dieser Krieg vielleicht gar nicht so schrecklich, wie es (immer seltener) in den Weltmedien heißt? Dem ist jedoch nicht so. Der Krieg ist eine brutale Realität für jeden, der in der Ukraine lebt oder mit ihr zu tun hat. Obwohl wir in vielerlei Hinsicht versuchen, uns zu schützen und die Normalität wiederherzustellen, kann man sich in Wirklichkeit nicht vom Krieg isolieren. Friedhöfe, Krankenhäuser, Ehemänner, Väter und Freunde, die an der Front kämpfen, sind Dinge, die uns nicht vergessen lassen.
Dieser Brief aus Kiew erscheint nach einer langen Pause. Es war schwer für mich, zum Schreiben zu kommen, trotz der wiederholten Fragen meiner Freunde: Was gibt es Neues bei euch? Auch in unserer dominikanischen Welt ist viel passiert. Die Brüder nahmen an Wallfahrten und Exerzitien teil, sie begleiteten junge Menschen auf ihren Sommerreisen und organisierten Workshops für Gregorianischen Gesang. Eine wichtige Arbeit leisteten Pater Mischa und die Freiwilligen von Fastiv, die den Menschen in Cherson und den umliegenden Dörfern halfen, welche nach der Zerstörung des Damms am Dnipro überflutet wurden. Besonders wichtig wurde die Küche, die im Stadtzentrum offen blieb. Dort konnte jeder Bedürftige eine kostenlose Mahlzeit erhalten. Dank der Unterstützung der polnischen Regierung konnten wir einige hundert Betten mit Bettzeug in die überschwemmten Gebiete bringen. In Cherson erzählte mir eine Frau, deren Haus überflutet wurde, dass die von den Russen verursachte Überschwemmung vielen Menschen, denen nach monatelanger Besatzung und einem Leben unter ständigem Beschuss nichts Schlimmeres passieren konnte, ihr ganzes Hab und Gut genommen hat. Ich bewundere ihre Entschlossenheit, ihren Kampfeswillen und ihre Dankbarkeit für die Hilfe.
Im Juli bekamen wir Besuch von Dominikanern aus den USA und der Tschechischen Republik. Als ich P. James aus der Provinz vom Heiligen Namen begleitete, konnte ich seinen lebendigen Glauben sehen, als er die Menschen, denen er begegnete, segnete und sie gleichzeitig um Gebet bat. Das war auch für mich ein wichtiges Zeugnis, eine Erinnerung daran, dass unter den vielen Aufgaben, die die Dominikaner in der Ukraine haben, das Gebet für und mit den Menschen die wichtigste ist. Ende Juni besuchte der Päpstliche Almosenier, Kardinal Conrad Krajewski, für einige Minuten unser Priorat in Chmelnyzkyj. Die Brüder Wojciech und Igor nahmen seine Ermutigung zum Gebet und sein Geschenk – den Rosenkranz des Papstes – sehr ernst…Auch der Ordensmeister ermutigte uns bei seinem jüngsten Besuch in der Ukraine zu diesem Gebet.
Wir haben Bruder Václav aus der Tschechischen Republik gefragt, was ihn dazu bewogen hat, in die Ukraine zu reisen und in Fastiv zu bleiben. Er sagte, dass er in einem meiner Briefe, den er in die tschechische Sprache übersetzt hat, von den Freiwilligen gelesen hat, die die Nächstenliebe lehren. Die Worte von Bruder Václav klingen wahr, besonders jetzt, wo wir für einen der Freiwilligen, Dennis, beten, der auf der Straße in Kiew von einem betrunkenen Fahrer getötet wurde. Es lohnt sich, Orte zu finden, an denen wir brüderliche Liebe von anderen und mit anderen lernen können.
Ich lernte Oksana zu Beginn des Krieges kennen, als es ihr gelang, aus dem damals russisch besetzten Irpin zu fliehen. Sie ist Künstlerin und bereitet eine Ausstellung von Puppen vor. Sie nannte sie: „Rückkehr nach Irpin“. Sie sagt, sie wolle nicht nur Puppen zeigen, sondern wahre menschliche Geschichten, die auf diese ungewöhnliche Weise erzählt werden. Wir haben überlegt, wie wir den verwundeten Soldaten im Krankenhaus in Kiew am besten helfen können. Irgendwann sagte sie: „Wir sind alle ‚rozmajbutnieni‘.“ Sie benutzte ein Wort, das in keinem Wörterbuch zu finden ist. Das ukrainische Wort „majbutnie“ bedeutet „das, was bald passieren wird“ und klingt ähnlich wie das englische „maybe“, obwohl es die Zukunft als sicherer und fester ausdrückt. „Rozmajbutnieni“ bedeutet diejenigen, die der Zukunft beraubt sind. Das Wort- und Bedeutungsspiel bildet die ukrainische Realität wunderbar ab. In unserem normalen Leben gehen wir in Träumen gekleidet. Oft ist unsere Zukunft für uns und unsere Kinder schon viele Jahre im Voraus geplant. „Rozmajbutnieni“ bedeutet, sich all dessen zu entledigen, was wir uns wünschen. Es ist eine nackte Gegenwart mit einer Planung, die nicht weiter reicht als bis morgen oder vielleicht eine Woche. Natürlich erleben wir „rozmajbutnieni“ nicht auf dieselbe Weise, aber wenn ich Pater Misha in Fastiv nach den Plänen für die kommenden Monate oder sogar Wochen frage, bekomme ich nicht immer eine Antwort.
Marzena von der Gruppe „Charytatywni-Freta“ erzählte uns von der jüngsten humanitären Mission in der Region Charkiw. Zavody ist ein kleines zerstörtes Dorf in der Nähe von Izyum, in dem Pater Misha und die Freiwilligen des Hauses St. Martin de Porres beim Wiederaufbau von Häusern und Bauernhöfen helfen. „Wie haben Sie uns gefunden, hier, am Ende der Welt?“, fragte eine Frau aus Zavody einen überraschten Freiwilligen aus Polen. „Es war Gott“, antwortete Marzena schnell. Offenbar hat dieser kurze Satz das Herz der Frau tief berührt, denn sie begann zu weinen. Als ich Marzenas Geschichte am Telefon hörte, musste ich an den Guten Hirten denken, der an die verlassenen Orte geht, um die verlorenen Schafe zu suchen.
Während meines jüngsten Besuchs in der Schweiz schenkte mir Bernard, ein Journalist von Cath.ch (Anm.d.Red: Webportal des Katholischen Medienzentrums in der Schweiz), ein paar Dutzend kleine Statuetten des lächelnden Jesus, die in eine Streichholzschachtel passen würden. Sie waren ein Geschenk der Kleinen Schwestern Jesu aus dem Schweizer Kloster in Aubonne. Bernard hat einen Dokumentarfilm über das ungewöhnliche Leben von Schwester Mary Hedwig gedreht, die in dieser Gemeinschaft lebt. In Polen war der große Apostel des Lächelns die heilige Urszula Ledóchowska. In der Schweiz schrieb Pater Maurice Zundel darüber: „Die stärkste Kraft in der Welt ist das Lächeln. Ein Lächeln macht uns lebendig, und das Fehlen eines Lächelns lässt uns sterben. Wenn es kein Lächeln gibt, schwindet das Leben. Wo immer es ein Lächeln gibt, blüht das Leben auf. Das Lächeln ist auch etwas, das sehr zerbrechlich ist. So viel Freude haben uns die Schwestern Renata und Kamila, Orionistenschwestern aus Korotych, bereitet. Im Juli kamen sie mit einer Gruppe von etwa zwanzig Kindern nach Fastiv und Kiew, von denen viele aus besetzten oder zerstörten Dörfern in der Region Charkiw stammen. Die Schwestern erzählten uns, dass die Kinder manchmal unerwartet – beim Abendessen, beim Tee oder beim Spielen – anfangen zu erzählen, wie die Bomben auf ihre Häuser fielen, wie sie sich in den Kellern versteckten, wie jemand starb. Wie viele schmerzhafte Erinnerungen sie in sich tragen! Sie alle waren zum ersten Mal in ihrem Leben in Kiew. Ich sah, mit welch großer Verehrung sie die Kerzen im orthodoxen Sabor des Heiligen Nikolaus anzündeten und wie sie mit Ehrfurcht die Mosaiken in der Sophienkathedrale betrachteten. Ich wäre nicht ich selbst, wenn wir nicht auch das Unterhaltungszentrum besuchen würden. Das ist ein lustiger Ort, der die Stimmung der Kinder immer hebt. Ich kenne es gut, denn vor zwei Jahren waren wir mit einer Gruppe von Flüchtlingen aus dem Irak dort.
Gestern ging der Weltjugendtag in Lissabon zu Ende; ein paar Jugendliche aus der Pfarrei in Fastiv waren mit Schwester Augustine dort. In Kiew wurde kurz nach Sonnenaufgang ein riesiges ukrainisches Wappen an die über 100 Meter hohe Statue gehängt. Auf dem Schild der Stahlstatue, das aus rostfreiem Stahl besteht und in der Sonne hell leuchtet, waren vor ein paar Tagen noch eine russische Sichel und ein Hammer zu sehen. Ich ging im Morgengrauen dorthin, um die Mutter Ukraine vom Ufer des Dnipro aus in dieser neuen, endlich ukrainischen Version zu sehen. Es ist ein wichtiges Symbol in einem wichtigen Prozess der Loslösung von der sowjetischen Vergangenheit.
Ich bitte Sie, für Bruder Nikita aus Charkiw zu beten, der kurz vor dem Abschluss seines Noviziats steht und nächsten Sonntag in Warschau seine ersten Gelübde in unserem Orden ablegen wird.
Mit Dankbarkeit für all Ihre Hilfe für uns und die Ukraine und mit der ständigen Bitte um Gebet,
Jarosław Krawiec OP
Bisherige Briefe seit Kriegsbeginn:
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